Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bin ich auch oft, denn ich habe die Zeit abonniert, seitdem ich siebzehn war, und immer wieder muss ich eine verlorene suchen. Aber es lohnt sich diese lesenswerte Wochenzeitung zu finden, nicht nur in der Ausgabe Nr. 1 vom 28.12.06, aber da besonders.
Christian Schüle geht das Thema Zeit ebenso ernsthaft wie humorvoll in 8 Etappen an, von denen ihn die 4. und 5. in die Slow City Hersbruck, nach Unterkrumbach und Vorderhaslach führte (Artikel in ganzer Länge). Natürlich führte die Beschäftigung mit Slow City wieder zur worst-case-Überschrift: "Besuch der langsamsten Stadt Deutschlands," aber der Text dahinter ist sehr weise und klug und uns blieb wenigstens die Überschrift "Langsamste Schrreinerei Deutschlands" erspart.
"Langsame Städte wie das evangelisch-bayerische Hersbruck setzen den globalkapitalistischen Kreisläufen gezielt regionale Kreisläufe entgegen. Handelsketten sind unerwünscht, alteingesessene Betriebe werden bewusst gefördert, historische Flächen aus dem 15. Jahrhundert beweidet, Streuobstwiesen kultiviert. Die Bauern vermarkten direkt, in den Gaststätten kommt, auch wenn das Lamm ein paar Cent teurer ist, nur die »Heimat auf den Teller«. Die Stadt hat vier Erdgasbusse, eine Erdgastankstelle, und wenn ein Begriff alle Hersbrucker Bemühungen auf den Punkt bringt, so ist es jener der Nachhaltigkeit."
Schrieb Schüle und lieferte damit nicht nur ein perfektes Zitat für das Nachhaltigkeitsblog, und ein Portrait mit dem Saibling der Fischzucht Rau, sondern auch eine wohlwollende Beschreibung unserer Slow City und des Bürgermeisters Wolfgang Plattmeier, dessen Presse-Arbeit zu den besten Disziplinen zählt.
"Der Bürgermeister, ein Roter, ist das Triebwerk der lebenswerten Langsamkeit."
Der ganze Artikel ist eine Abfolge von Zitiernotwendigkeiten, was durchaus ärgerlich ist, weil die Unterstreichungen in dem 11-seitigen ausgedruckten Exemplar aus dem Internet entgegen der nichtunterstrichenen Sätze in der Überzahl sind.
"Wenigstens zu ihrem Geburtstag wollte ich meine Mutter zu Hause besuchen. War klar, sagt sie, dass du’s nicht schaffst. Ein Jahr kann auf irrsinnige Weise kurz sein, sage ich. Bitter darauf ihr Schweigen."
Wie soll man sowas zusammenfassen? Am besten gar nicht, sondern abgesehen von dem persönlichen Faible für die folgende Passage, einfach auf den ganzen Text verlinken, ich habe ihn schon ein paar Menschen mitgegeben, die über das gerade vergehende Jahr jammerten:"War nicht Radfahren, bin kein einziges Mal in meinem schönen Garten gesessen, war nur einmal im Kino."
"Aber wer eine McDonald’s-Filiale mit dem Hinweis ablehnt, Fast Food gehe vielleicht schneller, sei jedoch verlorene Zeit, da Harmonie, innere Ruhe und seelische Zufriedenheit beim Essen verlustig gingen (was schließlich einen erheblichen Aufwand an kontemplativem Ausgleich verlange), der muss geradezu stolz sein auf Bürger wie den international erfolgreichen Möbelmacher herwig Danzer. Der arbeitet in der immer hektischer auf Just-in-Time-Produktion sich abrichtenden Hausbaubranche gezielt mit dem Faktor Entschleunigung.
Für seine Massivholzküchen kauft Danzer ausschließlich Kiefern und Lärchen von der Forstbetriebsgemeinschaft aus dem heimatlichen Wald vier Kilometer entfernt. Eingekauft wird nur im Winter, wenn der Frost das Holz getrocknet hat. Seine Säger brauchen fürs Sägen mindestens drei Wochen Zeit, seine zinsfressende Lagerhaltung bringt jeden Steuerberater zur Verzweiflung, weil das Holz so lange Platz belegt, bis es eben gebraucht wird. Das Ölen, Trocknen und Wiederölen der Platten mit Naturharz schließlich erfordert viermal so viel Zeit, wie wenn man es wie üblich spritzte. »Unsere Kunden schätzen den hohen Aufwand, zahlen mehr und warten länger, fahren dafür aber keine teuren Autos.« Der Möbelmacher nennt das »Wertverlagerung«. Erst wer Zeit als solche wahrnimmt, erkennt ihren wahren Wert."
Abgesehen davon, dass wir Kiefern und Lärchen nur zum Hausbau mit dem Initiativkreis Holz aus der Frankenalb verwenden, niemals für unsere Küchen (Buche, Ahorn, Rüster, Eiche, Esche, Eslbeere), sind uns viele Zusammenhänge wie zum Besipiel die "Wertverlagerung" selbst erst während der interessanten Gespräche mit Schüle aufgefallen. Andererseits haben wir gottseidank auch ein paar Kunden, die sich trotz ihrer teuren Autos unsere Möbel kaufen. Aber das ändert nichts an der Erkenntnis, dass diese auch selbst mehr Zeit in den Möbelkauf setzen, gleichzeitig aber auch weniger. Das gemeinsame Entwerfen von einzeln angefertigten Möbeln ist anders, als der Gang ins Möbelhaus. Erlebnis, Freude an der Gestaltung und vor allem Lebensqualität nach der Montage sind durch die eigene Beschäftigung mit der Einrichtung auf einem ganz anderen Niveau. Gleichzeitig holt die Kompletteinrichtung mit Teppich, Beleuchtung Sofa, Fußboden, Flachbildschirm und Vorhängen die Entwurfszeit leicht wieder rein. Ein Kunde der Kategorie A mit M-Zeitbewusstsein (alles im Artikel erklärt) sagte im Jahr 2005: "Allein die Tatsache, dass ich an den nächsten Samstagen nicht in andere Häuser wegen Licht, Fernseher und Vorhang muss, ist mir die Sache schon wert - und dann haben wir auch noch die Möbel aus heimischen Holz genau auf unsere Bedürfnisse abgestimmt."
"Die Fahrt von Hersbruck zum Ende der vermessbaren Welt"
Mit dem meint er ausnahmsweise mal nicht Unterkrumbach, sondern Vorderhaslach, wo er mit unserem Biobauer Uwe Neukamm über Zeitdimensionen diskutierte.
Das Vermessen Deutschlands hat er in seinem genialen Buch "Deutschlandvermessung" beschrieben, aus dem er nach momentanen Planungsstand am 17 August 2007 bei uns lesen wird. Auf das Buch werden wir in einem der nächsten Artikel noch hinweisen, bitte unbedingt lesen und zur Lesung kommen, vorher aber noch das geniale Dossier "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit."
Auf dem letzten Foto ist er im Gespräch mit Hans-Peter Eberhard vom Grünen Baum und unserer TouristinfoChefin Petra Hofmann.
"Bei 230 Stundenkilometern im ICE 72 nach Hamburg versank ich in einer Meditation über den Sinn von Schienen und rief mir das Bonmot des Zenmeisters Thich Nhat Hanh ins Gedächtnis. »Statt zu sagen: ›Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas‹, sollten wir das Gegenteil fordern: ›Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.‹«"
O.k., ich werden den Kamin anschüren und dem Jori-Relax-Sessel frönen, den ich öfter verkaufe als drin sitze. Ich sitz nur da, aber ein bisschen Musikhören ist schon erlaubt, oder?
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