Christian Schüle, Deutschlandvermessung. Abrechnungen eines Mittdreißigers.
Die Achtziger Jahre waren die für Christian Schüle prägende Zeit. Vier Schlüsselereignisse um und ab 1985 haben den 1970 geborenen Autor nachhaltig beeinflußt wie die Dauerpräsenz Helmut Kohls: Aids, Tschernobyl, Gorbatschow und die Wiedervereinigung. Sie sind Eckpfeiler im Bewußtsein dieser Generation.
Aus der geschichtlichen Rückbesinnung heraus beginnt er die Beschreibung unserer momentanen Alltagskultur.
Die jetzt Dreißigjährigen wuchsen im blühenden Wohlstand auf und es „gab nichts außer Zuversicht“. Ihr Lebensgefühl war beherrscht von der Überzeugung, nichts sei unmöglich. Sie waren an keinerlei Tradition gebunden. Schüle weiß, daß es bald an ihm und seinen Altersgenossen ist, die begrifflose Republik in den Griff zu nehmen, in der alles beliebig und alles erlaubt ist.
Dazu müssen sie sich selbst neu erfinden, denn die alte Bundesrepublik rheinisch geprägter Politik mit ihrem Versprechen ewiger Absicherung ist seit Gerhard Schröder vorbei. Sie sind die ersten arbeitslosen Akademiker und Opfer der Erosion des Sozialstaats, sie tasten sich voran, richten sich in Intervallen ein, nicht mehr im Leben, denn ein Lebensentwurf hat heute keinen Sinn mehr.
In den Achtzigern begann auch die bis heute fortschreitende Veränderung unserer Kultur durch Privatfernsehen, Computer und Internet, der „man später den Namen Kommunikationsgesellschaft geben würde“.
Sprich, das was man heute als Lebensstil bezeichnet ist nur Konsumstil, man klebt nicht an Ideen sondern an Dingen. Nachdem seit 1985 der Aufklärungsdruck aus der Achtundsechziger-Zeit nachgelassen hat, stören keinerlei ideologische Scharmützel die Selbstentfaltung.
Was damals hinterfragt und neu bewertet wurde ist heute einer Kommerzkultur gewichen, in der Marken zu Götzen und Logos zu Ikonen wurden. Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten änderten sich völlig. Dies gilt auch und im besonderen für unser Verständnis von Politik.
Politik in der „Epoche des Entertainments“ unterliegt den Regeln einer Erregungsindustrie: auf gezielte Erregung, Angst und Wut folgen gezielte Erlösung, Heil und das Gute.
Der deutsche Totalboulevard zwingt das politische Personal, ihre Bühnen zu betreten. Wer das Spiel nicht spielt, hat verloren. „Die Massenmediendemokratie hat die Parteiendemokratie weitgehend ersetzt, das Parlament hat die Aufgabe von Öffentlichkeit und Diskussion an die Talkshow abgegebe
n“. Einsamer Höhepunkt der Politik als „Staatstheaterposse“ war für Schüle die „Vertrauensfrage“ des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder.
Kulturkritik kann mehr sein als die Ironisierung von Defekten. Das zeigt uns Schüle anhand der Rede Richard von Weizsäckers zum 8.Mai 1985. Für ihn ist von Weizsäcker der letzte große intellektuelle Repräsentant der Deutschen. Inzwischen sind über zwanzig Jahre vergangen, ein geradezu erdrückender Beweis für das inhaltliche Vakuum, indem wir uns bewegen.
„Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit“ ist für Christian Schüle das Leitmotiv aus von Weizsäckers Rede. So könnte das enorm gestiegene Tempo der Veränderungen von unserer Gesellschaft und Kultur bewältigt werden, Umsicht und Respekt verändern unser Verhalten und ersetzen den alten Wertekanon, der bisher unseren Umgang mit unserer Vergangenheit und anderen Kulturen bestimmt hat. Er verordnet uns Gelassenheit, und frei nach Friedrich Schiller: Hoffnung und Freude.
Christian Schüles Buch ist ein wichtiger Beitrag zu unserer Kultur der Gegenwart, elegant und pointiert geschrieben, mit viel Lust an der Provokation, der viel Stoff für Diskussionen bietet. Er möchte weg von den Internetforen , denn das persönliche Gespräch ist ihm wichtiger.
Martin Lösch
Christian Schüle, Deutschlandvermessung.
Piper Verlag, 2006., geb. m.SU., 187 S., 16,90 €
Taschenbuchausgabe ebenso Piper Verlag, 8,- €
Letzte Kommentare